Die 4 Schritte

Von Eva Ebenhöh | March 14, 2017

Marshall Rosenberg interessierte sich seit seiner Kindheit für die Frage, warum Menschen einandern Gewalt antun. Er identifizierte bestimmte Sprach- und Denkmuster als eine Quelle für Gewalt zwischen Menschen. So befördern zum Beispiel Verurteilungen und moralische Pflichten Hierarchien und Zwang.

In der von Rosenberg entwickelten Gewaltfreien Kommunikation geht es darum, diese Muster abzulegen und eine Sprache zu üben, die geeignet ist, Gemeinsamkeit und zwischenmenschliche Verbindung zu stärken. Das Ziel dabei ist, zu unserem Leben und zum Leben anderer Menschen beizutragen, damit wir uns alle wohler fühlen.

Der Weg, den Marshall Rosenberg vorschlägt, ist, die Aufmerksamkeit auf vier Elemente zu richten, die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation.

  1. Beobachtung
    In der Gewaltfreien Kommunikation wird die Beobachtung möglichst neutral formuliert. Es ist dafür nötig, sie frei von eigenen Interpretationen und Bewertungen zu äußern. Das heißt nicht, dass wir nicht mehr interpretieren oder beurteilen sollen, sondern dass es hilfreich ist, sich den Unterschied bewusst zu machen.
  2. Gefühl
    Wir versuchen zu erspüren, wie es uns gerade geht, was wir fühlen, wenn wir etwas beobachten. Dabei geht es um körperlich spürbare Gefühle wie Traurigkeit oder Verunsicherung. Diese werden von Gedanken unterschieden, die sich manchmal als Gefühle tarnen. "Ich habe das Gefühl, du hörst mir nicht zu" ist kein Gefühl sondern ein Gedanke. Wenn ich denke, du hörst mir nicht zu, wie geht es mir dann? Ich werde vielleicht ärgerlich oder fühle mich einsam. Das Beispiel soll auch zeigen, dass wir zwar Gefühle von Gedanken und Verurteilungen unterscheiden, es aber nicht darum geht, die eigenen Gedanken wegzustecken oder sich nicht mehr zu ärgern. Im Gegenteil, wir wollen uns bewusst machen, was sie uns sagen wollten. Es geht darum, den verurteilenden Gedanken oder dem Ärger so zuzuhören, dass wir erkennen, was dahinter steht. Bei der Benennung unserer Gefühle ist es wichtig, anzuerkennen, dass uns niemand anderes Gefühle machen kann. Sie entstehen in uns als Signale erfüllter oder unerfüllter Bedürfnisse. Nur wir selbst sind verantwortlich für unsere eigenen Gefühle. Ebenso sind wir nicht verantwortlich für die Gefühle anderer Menschen. Es ist nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jemand anderes glücklich ist. Wenn wir dazu beitragen wollen, schön. Wenn nicht, auch schön.
  3. Bedürfnis
    Als nächstes erforschen wir, auf welches Bedürfnis uns das Gefühl hinweisen wollte. Wenn das Gefühl Einsamkeit ist, geht es vielleicht um Gesellschaft oder Anerkennung. Wenn das Gefühl Verunsicherung ist, brauchen wir vielleicht Sicherheit oder Unterstützung. Bedürfnisse in der Gewaltfreien Kommunikation sind menschliche Grundbedürfnisse in dem Sinne, dass wir uns vorstellen können dass jeder einzelne Mensch auf der Welt sie hat. Es geht um Selbstwert, Entspannung, Kreativität und Ähnliches. Bedürfnisse sind unabhängig von konkreten Handlungen oder Personen. Und sie sind unantastbar. Wir erkennen das Bedürfnis eines jeden Menschen nach Autonomie und Wertschätzung an, ohne notwendigerweise gut zu finden, auf welche Art diese Menschen sich ihre Bedürfnisse erfüllen. Konkrete Handlungen, mit denen wir versuchen, uns Bedürfnisse zu erfüllen, nennen wir Strategien. Es gibt viele unterschiedliche Strategien, die mein Bedürfnis nach Entspannung erfüllen könnten, zum Beispiel Schlafen oder Tanzen gehen. Konflikte haben wir auf der Strategien-Ebene, nicht auf der Bedürfnisebene. Betrachten wir als Beispiel einen (fiktiven) Autofahrer, der regelmäßig schneller, als mir lieb ist, durch eine Wohnstraße fährt. Ich kann anerkennen, dass ihm wichtig ist, eine Verabredung einzuhalten (wenn es das ist). Ich erkenne auch den Wunsch an, sich stark und wirksam zu fühlen, den er sich vielleicht durch die Geschwindigkeit erfüllen will. Trotzdem gefällt mir die Strategie nicht, mit der der Autofahrer versucht, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Auf dieser Ebene haben wir einen Konflikt, der unvereinbar scheint. 30 km/h vs. 50 km/h. In der Gewaltfreien Kommunikation geht es darum, von der Strategieebene auf die Bedürfnisebene zu kommen. Denn der Autofahrer kann sicher auch anerkennen, dass mir die Sicherheit meiner Kinder wichtig ist. Auf der Ebene haben wir keinen Konflikt. Zuverlässigkeit (Verabredungen einhalten) und Sicherheit widersprechen sich nicht. Wenn es so aussieht, als würden sie sich widersprechen, dann haben wir nur noch nicht die kreativen Lösungsstrategien gefunden, die beiden Bedürfnissen gerecht werden. Vielleicht nehme ich die Kinder an die Hand. Vielleicht verbreitern wir den Gehweg. Vielleicht fährt der Autofahrer fünf Minuten früher los. Ich sage nicht, dass das immer einfach ist oder immer "funktionieren" wird. Ich sage: Es ist überraschend wirksam und den Versuch in jedem Fall wert.
  4. Bitte
    Als vierten Schritt bitten wir um eine konkrete Handlung, die geeignet ist, unser Bedürfnis zu erfüllen. Die Bitte kann auch an uns selbst gerichtet sein. Dabei verspricht die Gewaltfreie Kommunikation nicht, dass Bitten, die nach dem Schema der vier Schritte geäußert werden, sicher und bereitwillig erfüllt werden. Denn es geht nicht in erster Linie um Lösungen, sondern um Beziehungen. Selbst wenn sich in dem Beispiel mit dem Autofahrer nichts ändert, dann hilft es unserer Beziehung, wenn ich sein Bedürfnis nach Verlässlichkeit anerkenne und mein Bedürfnis nach Sicherheit ausdrücke, anstatt jedesmal zu denken "egoistischer Mistkerl!"

Wenn wir anfangen, Gewaltfreie Kommunikation zu lernen, beginnen wir damit, uns mit Hilfe dieser vier Schritte selbst zu klären. Wir können durch sie herausfinden, warum uns eine bestimmte Handlung so aufregt oder warum uns eine Entscheidung schwer fällt. Auch Schuldgefühle und Ängste lassen sich auf diese Weise ergründen. Und wir können zu verstehen versuchen, welche Bedürfnisse hinter den Handlungen anderer lagen. Als du das-und-das getan hast, wie ging es dir da und was hättest du gebraucht? Das können wir still für uns tun oder im Dialog.

Mir ist wichtig zu betonen, dass diese vier Schritte nicht als Selbstzweck verwendet werden, sondern um einen Fokuswandel zu ermöglichen oder zu erleichtern, der uns von der Frage “Wer ist schuld?” zu der Frage “Wie geht es uns und was brauchen wir?” führt. Dadurch ist Gewaltfreie Kommunikation weniger eine Technik und viel mehr eine innere Haltung der Wertschätzung.

Siehe auch den Text zu Empathie.